Wie erkenne ich ein hochbegabtes Kind?

Hochbegabung bei Kindern


Was bedeutet Hochbegabung bei Kindern?

Vorab:

Für eine bessere Lesbarkeit...

...verwenden wir nur eine Geschlechtsform, obwohl alle Geschlechter gemeint sind.
...verwenden wir den Begriff Hochbegabung/hochbegabte Kinder, obwohl auch überdurchschnittlich intelligente junge Menschen gemeint sind.

Der Begriff „Hochbegabung“ bezieht sich – anders als beispielsweise die Verwendung des Begriffs „Talent“ – auf rein intellektuelle Fähigkeiten. Hochbegabten Kindern werden im Allgemeinen eine besonders hohe Intelligenz und damit eine herausragende Denk- und Problemlösungsfähigkeit bescheinigt. Sie verfügen in der Regel über eine gute Lernfähigkeit, eine schnelle Auffassungsgabe und außerordentliche Gedächtnisleistungen. In ihrer geistigen Entwicklung sind hochbegabte Kinder anderen Kindern ihres Jahrgangs oftmals um Jahre voraus.

Beachte!: Hochbegabte Kinder verfügen über das Potential zu außergewöhnlichen Leistungen. Ob sie diese Leistungen auch tatsächlich erbringen, hängt von der jeweiligen Förderung und den Bedingungen des Umfeldes ab, in dem die Kinder aufwachsen. Hochbegabung ist nicht automatisch gleichzusetzen mit außergewöhnlicher Leistung. Insofern ist ein hochbegabtes Kind auch nicht immer einfach zu erkennen.

Eine gesicherte Aussage über vorhandene oder nicht vorhandene Hochbegabung liefert allein ein Intelligenztest. In der Intelligenz-Forschung gilt ein Kind nur dann als hochbegabt, wenn es in entsprechenden Tests einen Wert von über 130 Punkten erreicht bzw. einen Prozentrang von 98. Das bedeutet, dass etwa 2 Prozent der Kinder eines Jahrgangs intellektuell hochbegabt sind. Die Zahl der überdurchschnittlich intelligenten Kinder – also mit einem IQ-Wert zwischen 115 und 130 – liegt bei etwa 15 Prozent. Auch diese Menschen haben ein intellektuelles Potential, welches deutlich über dem allgemeinen Durchschnitt liegt!


Merkmale/Zeichen von Hochbegabung: Woran erkennt man ein hochbegabtes Kind?

Hochbegabte Kinder zu erkennen erfordert Erfahrung. Eine genaue Diagnose ist nur mit Hilfe eines normierten Testverfahrens möglich. Als Konvention bestimmt liegt der nominelle Wert, ab dem eine Hochbegabung zu diagnostizieren ist, bei einem IQ über 130. Dieses Kriterium wird verwendet, da es nach wie vor bisher noch nicht möglich ist, qualitative, differenzierte Denkprozesse oder Denkstrukturen für hochbegabte Menschen festzulegen. Auch besonders begabte Kinder sind in ihrem Verhalten und ihren Vorlieben sehr unterschiedlich. Es gibt also kein standardisiertes Verhaltensmuster eines hochbegabten Kindes. Allerdings gibt es einige typische Merkmale/Anzeichen, die auf eine Hochbegabung schließen lassen:

  1. Allgemeine Entwicklung
  2. Entwicklungsphasen

    • können übersprungen werden oder stark verkürzt sein, z.B. statt krabbeln sofort laufen

    Sprachaufbau

    • sehr frühes und differenziertes Sprechen, keine Babysprache
    • andere wiederum sprechen erst spät, dafür aber dann schnell in ganzen Sätzen
    • Aufbau eines großen Wortschatzes

    Schlafbedürfnis

    • viele hochbegabte Kinder schlafen gemessen an Gleichaltrigen sehr wenig
    • bei manchen ist wiederum das Gegenteil der Fall

    Unterschiedliche Entwicklungsbereiche

    • Kinder neigen dazu, besonders ihre starken Bereiche weiter auszubauen:
    • ausschweifende Diskussionen darüber, ob ein Bild gemalt oder ein Aufsatz geschrieben werden soll; das Kind nutzt dabei lieber seine herausragende Sprechfähigkeit, als eine Arbeit mit der Hand auszuführen (asynchrone Entwicklung der Sprache versus Feinmotorik?!).

    Neugierde

    • in jungen Jahren sehr ausgeprägt: Wörter werden hinterfragt, Detailwissen aufgebaut

    Interessen

    • intensives Ausleben von Interessensgebieten (deutlich dem Alter voraus), dann wieder Sprung zu anderen Gebieten

    Auffassungsgabe

    • auffällig schnell, häufig verbunden mit weitreichender Kombination und Verknüpfung aus anderen Gebieten; relativ plötzlicher Interessensabbruch

  3. Arbeits- und Lernverhalten
  4. Gedächtnisleistung und Beobachtungsgabe

    • außerordentlich gut
    • hohe Detailwahrnehmung
    • ausgeprägter Sinn fürs Sortieren und Ordnen, z.B. Erkennen von Automarken mit drei Jahren

    Zahlen

    • weniger die Fähigkeit, früh bis 20, 100 oder 1000 zählen zu können, sondern eine richtige Einschätzung von Mengen und Größen
    • frühe Rechenleistung, die sich aus Alltagssituationen heraus ergibt

    Buchstaben

    • häufig früh ausgeprägtes Interesse an Buchstaben. Sobald die Kinder die Buchstaben beherrschen, kann das Interesse auch wieder abebben
    • einige hochbegabte Kinder können bereits vor Schuleintritt lesen; dafür braucht das Kind eine bestimmte Entwicklungsdisposition.

    Konzentration

    • hohe Konzentration bei intellektueller Herausforderung
    • Konzentrationseinbruch bei Wiederholungs- und Routineaufgaben

    Anstrengungsbereitschaft

    • häufig nicht gut bei hochbegabten Kindern ausgebildet. „Sich um etwas bemühen müssen“ im kognitiven Bereich in den ersten Lebensjahren ist eher selten, daher kann es zu fehlender Leistungsbereitschaft kommen

    Wiederholungsaufgaben

    • Desinteresse und Langeweile bei Routine- und Wiederholungsaufgaben wie z. B. Üben von Musikstücken, Training des 1 x 1

    Perfektionismus

    • Versuch, Aufgaben so perfekt wie möglich zu lösen
    • Kritikäußerungen an dem Ergebnis eigener Anstrengungen

  5. Sozialer Bereich
  6. Individualität

    • nicht immer gruppenkonform, andererseits Bedürfnis, Mitglied einer Gruppe zu sein, teilweise sehr früh unabhängig und autonom
    • Vorliegende überschießende Energie kann die Kinder bei den Mitschülern und Lehrern schnell unbeliebt oder zu Einzelgängern machen

    Soziale Kompetenz und Sensibilität

    • Immer wieder für das Alter weit voraus, was zu Unverständnis in der Gruppe führt und manchmal auch zu Fehlinterpretationen von Lehrern und Erziehern
    • hochbegabte Kinder neigen zu Überempfindlichkeit und sind daher schnell aus einer Gruppe ausgeschlossen
    • Hochbegabte setzen sich häufig für Außenseiter, Benachteiligte oder Behinderte ein

    Autoritäten

    • werden hinterfragt, Anweisungen kritisch durchleuchtet
    • Schwierigkeiten bei der Akzeptanz von unreflektierten Weisungen durch Autoritäten (kritisches Hinterfragen!)
    • Kinder werden daher schnell als respektlos eingestuft

Mögliche problematische oder auffällige Verhaltensweisen

  • Vermeidung von Anstrengung
  • Fehlender Aufbau oder Verlust von Motivation zur Leistung
  • Entwicklung von psychosomatischen Symptomen wie unspezifische Bauch- oder Kopfschmerzen
  • „Zappelphilipp-Syndrom“ / Lebhaftigkeit / ADHS
  • hochbegabte Kinder sind gerne auch sehr lebhafte, aufgeweckte kleine Energiebündel
  • Unruhe und schnelle Langeweile
  • Störverhalten, Impulsivität, Überempfindlichkeit
  • ein Kind kann gleichzeitig überdurchschnittlich intelligent wie auch hyperaktiv sein, umgekehrt ist nicht jedes hyperaktive Kind auch hoch intelligent – beides sollte daher abgeklärt werden
  • Hochbegabte Kinder – aber auch hochbegabte Erwachsene – leiden häufig unter einer Reizüberflutung im akustischen Bereich. Sie können selbst laut sein, aber durch Geräusche in ihrer Umgebung sehr gestresst werden (hier können Hörfilter helfen).

Natürlich treffen nicht alle Merkmale gleichzeitig auf ein einzelnes Kind zu. Verfügt ein Kind aber über einige dieser Aspekte, ist die Absicherung mit Hilfe eines Intelligenztests ratsam.

Darüber hinaus gibt es einige auffällige Verhaltensweisen, die eine Abklärung von Hochbegabung notwendig machen: auffälliges, extrem störendes Verhalten; psychosomatische Probleme oder Ticks; (Auto-)Aggressivität; sogar Selbstmordgedanken können in Extremfällen auftreten.

Checkliste zur Vorauswahl potenziell hochbegabter Schulkinder

1. Lernverhalten, Denkfähigkeit

Ihr Kind...

  • zeigt ein für ihr/sein Alter breites und vielfältiges Wissen
  • zeigt ein für ihr/sein Alter umfangreichen Wortschatz
  • drückt sich gewandt aus
  • formuliert präzise
  • merkt sich neue Informationen rasch
  • entnimmt aus Texten, Experimenten o. Ä. selbständig neue Informationen
  • verwendet vorhandene Informationen selbständig in neuen Zusammenhängen
  • erkennt und formuliert Problemstellungen
  • plant Lösungswege
  • kombiniert Lösungsschritte bei Bedarf neu
  • lernt rasch aus Fehlern
  • erkennt Analogien
  • bildet selbst Analogien
  • schließt aus bekannten Tatsachen auf eine allgemeingültige Aussage
  • zieht aus einer allgemeingültigen Regel spezifische Schlüsse
  • bemerkt auch kleine Details
  • liest viel und vor allem Bücher für Erwachsene
  • 2. Motivation

    Ihr Kind...

    • beschäftigt sich lange Zeit mit der Lösung eines Problems
    • langweilt sich bei Wiederholungsaufgaben
    • braucht kaum Lob oder andere Bestätigungen, um eine Aufgabenstellung zu bearbeiten
    • führt Erfolg bei der Lösung einer Aufgabe zurück auf:
    • a) eigene Fähigkeiten

      b) Anstrengung

    • führt Erfolg nicht zurück auf:
    • a) Aufgabenschwierigkeit

      b) Zufall

    • Ist bemüht, Aufgaben so perfekt wie möglich zu lösen
    • äußert Kritik an dem Ergebnis eigener Anstrengung
    • möchte selbständig mit möglichst wenigen Anweisungen arbeiten
    • ist selbstbewusst
    • 3. Soziale Fähigkeit

      Ihr Kind...

      • beschäftigt sich mit Begriffen wie Recht/Unrecht oder Gut/Böse
      • bildet sich häufig eine von der Mehrheit abweichende Meinung
      • hat keine Angst davor, sich von anderen zu unterscheiden
      • stellt Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen von „Autoritäten“ kritisch in Frage
      • übt konstruktive Kritik
      • verhält sich Lehrern und Mitschülern gegenüber kooperativ
      • ist bereit, Verantwortung zu übernehmen
      • ist bei der Durchführung übernommener Aufgaben zuverlässig
      • kommt mit Gleichaltrigen wie mit Erwachsenen gut aus
      • kann sich an neue Situationen gut anpassen

      Faktoren, die Hochbegabung fördern oder hemmen können

      Hochbegabung ist ein relativ störanfälliges Konstrukt. Auch intellektuelle Begabung entwickelt sich im Zusammenspiel aus erblichen Anlagen und Umwelteinflüssen. Um Hochbegabung entfalten zu können und eine positive Entwicklung des Kindes zu ermöglichen, müssen verschiedene Faktoren ineinander greifen:

      Triadisches Interdependenzmodell

      Abb.: Triade von F.J. Mönks, 1990

      Im Triadischen Interdependenzmodell der Hochbegabung nehmen Familie, Schule und Freundeskreis ("Peers") einen zentralen Platz ein: In diesen Sozialumgebungen kann jedes Kind und vor allem das hochbegabte Kind entscheidend gefördert oder gehemmt werden.
      Die persönlichen Eigenschaften des Kindes wie Intelligenz, Kreativität oder Motivation spielen ebenfalls eine Rolle bei der Intelligenzentwicklung. Das Kind muss den Willen haben, sein Potential auch auszuschöpfen.
      Daher sprechen wir erst dann von Hochbegabung, wenn die genannten Faktoren,
      d. h. beide Dreiergruppen, so ineinander greifen, dass sich eine harmonische Entwicklung vollziehen kann (Mönks, 1990). Dies ist ein lebenslanger Prozess.

      Auch in späteren Jahren ist die Entfaltung von intellektueller Begabung in hohem Maße abhängig von externen Faktoren: Unter äußerst ungünstigen Bedingungen kann Hochbegabung sogar verkümmern (z.B. durch ständige Unterforderung im Beruf). Eine gezielte Förderung und Unterstützung in der Gesamtentwicklung des Kindes ist somit für die Erhaltung und Entfaltung von Hochbegabung von entscheidender Bedeutung.


      Warum brauchen hochbegabte Kinder gezielte Unterstützung?

      Leider ist noch recht häufig die irrige Annahme verbreitet, dass intellektuell begabte Kinder sich allein aufgrund ihres geistigen Potentials in jedem Falle und unter allen Bedingungen erfolgreich entwickeln.

      Um aber ihren Beitrag für sich selbst und für die Gesellschaft zu realisieren, benötigen hochbegabte oder überdurchschnittlich begabte Kinder differenzierte pädagogische Programme und Hilfestellungen, die über die regulären Schulprogramme hinausgehen.
      Viele hochbegabte Kinder passen sich den an sie gestellten Anforderungen an und zeigen nicht oder selten ihre herausragende Denkfähigkeit. Das Risiko ist groß, dass diese Kinder nicht oder erst spät als besonders begabt erkannt und entsprechend wenig gefördert werden. Mit weit reichenden Folgen:

      Während der Schulzeit müssen sich intellektuell begabte Kinder den Unterrichtsstoff häufig aneignen wie normal begabte - in demselben (für sie zu langsamen) Tempo, mit demselben (für sie zu leichten) Schwierigkeitsgrad und in demselben (für sie zu geringen) Umfang, und dies trotz ihrer sehr viel schnelleren Auffassungsgabe, ihrer herausragenden Denk- und Gedächtnisfähigkeiten.

      Vor einer besonders schweren Aufgabe steht dabei der/die Klassenlehrer/-in in der Grundschule, da die Lernvoraussetzungen der Kinder sehr unterschiedlich sind. Bei intellektuell hochbegabten Kindern kann Langeweile und fehlende Anerkennung zu Motivationsverlust und Schulunlust führen. Dauert die Unterforderung über längere Zeit an, sind massive Lernschwierigkeiten vorprogrammiert:

      • Lerntechniken werden nicht entwickelt
      • Grenzen der eigenen Möglichkeiten werden nicht erfahren
      • die mit Anstrengung noch erreichbaren Erfolge werden nicht erfahren
      • keine oder wenig Konkurrenz
      • Bewältigungsstrategien für Misserfolge und Frustration werden nicht entwickelt

      Zu massivem Stress bei Hochbegabten führen auch:

      • Mangel an Herausforderung (besonders im Grundschulalter)
      • fehlende Kontakte mit hochbegabten Gleichaltrigen
      • Mangel an Information über geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten
      • Langeweile und Ungeduld im Unterricht
      • fehlende Motivation

      Diese Probleme können sich steigern bis hin zu störendem Verhalten (Erziehungsproblem Hochbegabung), kompletter Leistungsverweigerung, Resignation, Problemen in der Familie, ernst zu nehmenden Depressionen und psychosomatischen Störungen.

      Aus der Arbeitswelt ist mittlerweile das Phänomen des "Boreout" bekannt: aufgrund von dauernder Unterforderung z. B. infolge einer ungeeigneten Berufswahl/eines unpassenden Arbeitsumfeldes bei deutlich fehlender Anerkennung. Die möglichen Folgeerscheinungen können dann im psychosomatischen Bereich liegen und zeigen sich durch Frustration, Gereiztheit oder Langeweile, Müdigkeit, Lustlosigkeit. Dies kann dazu führen, dass simple Aufgaben nicht in zufriedenstellendem Maße erfüllt werden. Auch bei überdurchschnittlich intelligenten Kindern kann dies "Paradoxon des Boreout" immer wieder beobachtet werden.

      Werden hochbegabte Kinder entsprechend ihrer Begabung gefördert und erhalten sie die nötige Unterstützung durch ihr soziales Umfeld – also angemessene Angebote zur Selbstentfaltung -, entwickeln sie sich in der Regel zu kreativen, leistungsmotivierten, sozial engagierten und fröhlichen Persönlichkeiten.

      Die Natur ist darauf ausgerichtet, niemals Ressourcen zu verschwenden, auch die Wirtschaft will keine Verschwendung. Aber wie viele Begabungen von jungen Menschen gehen verloren, weil sie nicht erkannt und nicht gefördert werden? Früher waren es eher die Familien, die ihrem Nachwuchs die nötige Förderung angedeihen ließen. Die Strukturen haben sich jedoch verändert: heute müssen Kindergarten und Schule diese Aufgabe übernehmen. Dabei sollte deutlich gesehen werden, dass nicht alle Kinder gleich sind: aber alle Kinder brauchen eine Chance, ihre Fähigkeiten entfalten zu dürfen.


      Stand: 28.10.2023

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